Automobil-Gipfel: Deutsch-türkische Allianz soll Europas E-Auto-Krise abwenden

26.11.2025 – 9:00 Uhr

Nach Ansicht von Branchengrößen entwickelt sich die Türkei rasant vom reinen Billiglohn-Standort zu einem entscheidenden Innovationsmotor für die europäische Automobilindustrie. Dies war das zentrale Thema des ersten Deutsch-Türkischen Automobilgipfels in Berlin. „Eindeutig die Türkei. In der neuen Autowelt ist die Türkei schneller unterwegs als Deutschland“, sagte der ehemalige VW-Konzernchef Dr. Herbert Diess in der Diskussion.

Grund für diese Dynamik ist das Aufkommen neuer Akteure wie der türkische E-Auto-Hersteller Togg. „Deutschland als Autoland hat – anders als etwa China oder die Türkei mit Togg – praktisch kein großes, erfolgreiches Auto-Start-up hervorgebracht”, so Diess. Start-ups dächten von Beginn an in integrativen Daten- und Energieökosystemen, während es in etablierten Konzernen schwerer sei, alte Strukturen hinter sich zu lassen.

China als „brutaler“ Lehrmeister – Europa mit Licht und Schatten

Die Diskussion mit Togg-CEO Gürcan Karakaş und dem Branchenexperten Prof. Dr. Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management (CAM) kreiste stark um die Rolle Chinas. Diess räumte eine „gewisse Paranoia” ein, schrieb Europa aber nicht ab. Die neuen E-Plattformen deutscher Premiumhersteller seien „von der Papierform her absolut auf Augenhöhe“. Die Software-Qualität chinesischer Autos werde oft überschätzt.

Allerdings habe China durch einen „brutalen” Wettbewerb in seinem Heimatmarkt einen Vorsprung bei Skalierung und Batterietechnologie erlangt. Prof. Bratzel betonte die überlegene „Geschwindigkeit” Chinas bei Entscheidungen und Produktumsetzung. „Genau diese Umsetzungsgeschwindigkeit ist ein Lernfeld für Deutschland und Europa”, sagte Bratzel.

Togg betritt die „Höhle des Löwen”

Togg-CEO Karakaş kündigte an, den deutschen Markt behutsam, aber entschlossen erobern zu wollen. „Wir fangen klein an und hören groß auf“, sagte er. Bevor man nach Deutschland kam, waren bereits rund 80.000 Fahrzeuge in der Türkei auf den Straßen, um die Alltagstauglichkeit und das Nutzerverhalten zu testen. „Ja, es ist die ‚Höhle des Löwen‘. Aber am Ende entscheidet das Produkt“, so Karakaş.

Bratzel ordnete den Markteintritt als ambitioniert in einer „extrem schwierigen Marktphase” ein. Togg gehe jedoch „deutlich professioneller vor“ als andere Newcomer, indem das Unternehmen auf langfristigen Aufbau und ein kundenzentriertes Ökosystem setze.

Appell: Kein Protektionismus, mehr Mut zu Start-ups

Diess äußerte zwar Sorge um den deutschen Automobilstandort, warnte aber eindringlich vor protektionistischen Reflexen. „Was gefährlich wäre, wäre, in den Protektionismus zu flüchten und die alte Welt künstlich zu verlängern”, sagte er. Anstatt alte Strukturen zu stützen, sei es für eine Volkswirtschaft häufig effizienter, konsequent auf neue Start-ups zu setzen.

Für die Zukunft wünscht sich Diess eine vollständigere Integration der Türkei in die europäische Autoindustrie. Das türkische Produktionscluster, das heute bereits etwa eine Million Fahrzeuge pro Jahr produziert, werde auf über zwei Millionen wachsen und technologisch fortschrittlicher werden. Eine ideale Partnerschaft im Jahr 2035 sei laut Bratzel eine „echte Innovationspartnerschaft”, in der beide Länder gemeinsam Software entwickeln und Wertschöpfung in den Bereichen Daten und Plattformen aufbauen.