ISTANBUL – Seismische Aktivitäten im Marmaragebiet haben sich in den vergangenen 15 Jahren schrittweise von Westen nach Osten verlagert und erhöhen den Spannungsdruck auf die Nähe der Millionenmetropole Istanbul. Das geht aus einer aktuellen Studie hervor, die im Fachjournal Science veröffentlicht wurde.
Die Untersuchung wurde von Wissenschaftlern des GFZ Helmholtz-Zentrums für Geowissenschaften in Deutschland geleitet. Demnach übertragen kleinere, langsam gleitende Abschnitte der Verwerfung im Westen zunehmend Spannungen auf die östlichen Segmente der Nordanatolischen Verwerfung, die näher an Istanbul liegen. Dadurch steige die Wahrscheinlichkeit eines stärkeren Bebens.
Entgegen der häufigen Annahme, dass ein Erdbeben die Spannungen entlang einer Verwerfung abbaut, habe das Beben der Stärke 6,2 vom 23. April die Gefahr nicht verringert. Stattdessen habe es den Druck auf bislang blockierte Verwerfungssegmente südlich von Istanbul erhöht, in denen sich derzeit ungewöhnlich hohe Spannungen aufbauen.
Laut den Forschern nahm die seismische Aktivität im westlichen und zentralen Marmarameer bereits in den Jahren 2011 und 2012 zu. Ein Erdbeben der Stärke 5,8 vor Silivri im September 2019 wurde später vom April-Beben gefolgt, dessen Epizentrum weiter östlich und näher am Stadtzentrum lag.
Diese ostwärts gerichtete Entwicklung gleiche einem Dominoeffekt entlang der Verwerfung, so die Autoren. Während westliche Abschnitte langsam nachgeben, bleiben die östlichen Segmente blockiert und speichern Energie, die sich in einem starken Erdbeben entladen könnte.
Besonders kritisch sei dabei, dass Brüche, die sich in Richtung Istanbul ausbreiten, die seismische Energie auf die Stadt fokussieren und die Bodenerschütterungen stärker ausfallen lassen könnten, als es die Magnitude allein vermuten ließe.
Die Nordanatolische Verwerfung ist eine sogenannte Blattverschiebung, bei der sich Gesteinsblöcke horizontal gegeneinander bewegen. Wenn blockierte Segmente plötzlich nachgeben, kommt es zu heftigen Erschütterungen.
Als besonders besorgniserregend gilt ein 15 bis 20 Kilometer langer Abschnitt vor der Küste des Istanbuler Stadtteils Avcılar, der bislang seismisch ruhig geblieben ist. Diese sogenannte „seismische Lücke“, gelegen zwischen dem Bruchgebiet von 2025 und dem Segment bei den Prinzeninseln, gilt als möglicher Ausgangspunkt für ein Erdbeben der Stärke 6 oder höher.
Ein Spannungsübertrag von diesem Abschnitt könnte zudem die Prinzeninseln-Verwerfung auslösen, die laut Wissenschaftlern vollständig blockiert ist und seit Jahrhunderten Energie angesammelt hat.
Das Marmarameer stelle derzeit das Gebiet mit dem höchsten Erdbebenrisiko in Europa dar, warnen die Forscher. Angesichts der ostwärts wandernden Spannungen fordern sie eine intensivere Überwachung der Region, insbesondere durch den Ausbau von Unterwasser-Sensorsystemen, um die Verwerfung in Echtzeit zu beobachten.