Wenn das Gehirn bebt: Phantom-Erdbeben-Syndrom in der Türkei auf dem Vormarsch

22.11.2025 – 8:00 Uhr

Istanbul – Das sogenannte „Phantom-Erdbeben-Syndrom“ – die anhaltende Wahrnehmung von Zittern, Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen, obwohl kein tatsächliches Erdbeben stattfindet – breitet sich in der Türkei immer weiter aus. Betroffen sind sowohl Menschen in erdbebengefährdeten Regionen als auch Bewohner weiter entfernter Gebiete ohne aktive Verwerfungen.

Besonders verbreitet ist das Phänomen derzeit in Sındırgı, Provinz Balıkesir im Nordwesten des Landes, wo in den vergangenen drei Monaten 16.000 Erschütterungen registriert wurden. Fachleute berichten jedoch, dass das Syndrom inzwischen landesweit auftritt. Viele Menschen interpretieren bereits kleinste Vibrationen als mögliches Beben und verfolgen Erdbebenwarnungen obsessiv über Apps und soziale Medien.

Ursachen und Symptome

Der Psychiater Burak Amil erklärt, dass reale Erdbeben neurochemische und physiologische Prozesse in den Gleichgewichtszentren des Gehirns vorübergehend stören können. Betroffene neigten dadurch dazu, das Zittern auch ohne tatsächliche Erschütterung erneut zu spüren.
„Menschen können in einen Zustand erhöhter Wachsamkeit geraten, als ob ein Erdbeben stattfindet, selbst in völliger Ruhe“, so Amil. Angststörungen, Panikattacken und akute Stressreaktionen erhöhen die Wahrscheinlichkeit solcher Wahrnehmungen.

Auch Erkan Aydın, Leiter einer psychiatrischen Klinik, betont, dass das Syndrom durch vorübergehende Fehlanpassungen zwischen den Bedrohungszentren des Gehirns, den Gleichgewichtsmechanismen und dem autonomen Nervensystem ausgelöst wird.
„Es handelt sich nicht um Halluzinationen, sondern um eine körperlich-psychische Reaktion auf ein Trauma“, erklärt Aydın. Ein erneutes Sicherheitsgefühl helfe dem Gehirn zu erkennen, dass keine Gefahr mehr besteht.

Die klinische Psychologin Emine Akın Aytop ergänzt, dass vor allem Menschen, die bereits starke Erdbeben erlebt haben, eingesperrt waren oder permanent Erdbebenmeldungen ausgesetzt sind, besonders anfällig sind. Anhaltende Angst kann einen Kreislauf aus kognitiven, emotionalen, physischen und Verhaltensreaktionen auslösen – von Herzrasen und Zittern bis hin zu zwanghaftem Überprüfen von Warnmeldungen oder Höhenangst.

Maßnahmen zur Linderung

Amil empfiehlt präventive Maßnahmen wie die Überprüfung der Sicherheit der eigenen Wohnung, Kenntnis von Sammelplätzen und das Bereithalten eines Notfallkits. Atemübungen und – bei Bedarf – medizinische Behandlung können ebenfalls Entlastung bringen.
Aytop rät Betroffenen, die über längere Zeit unter den Symptomen leiden oder deren Beschwerden zunehmen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, da Therapien die psychische Belastung deutlich mindern können.

Leichte körperliche Aktivitäten, strukturierte Atemübungen und gezielte Erdungsübungen helfen, die körperlichen Reaktionen zu regulieren und den Kreislauf aus Angst und Wahrnehmung zu durchbrechen.