Erschütterndes Warnsignal: Marmara-Erdbeben entlud nur einen Bruchteil der gespeicherten Energie

18.05.2025 – 15:00 Uhr

Das jüngste Erdbeben in der Marmara-Region war kein Zeichen der Entwarnung, sondern vielmehr eine ernste Erinnerung an die bestehende Gefahr. Laut einem Vorbericht des Zentrums für Katastrophenmanagement und -forschung (MATAM) der Technischen Universität Istanbul (İTÜ) habe das am 23. April 2025 vor der Küste von Silivri registrierte Beben der Stärke 6,2 lediglich rund 12 Prozent der in der Region angesammelten seismischen Energie freigesetzt. Zu diesem Ergebnis kommt ein Vorbericht des Zentrums für Katastrophenmanagement und -forschung (MATAM) der Technischen Universität Istanbul (İTÜ).

Dem Bericht zufolge dauerte das Beben etwa 13 Sekunden und wurde von über 291 Nachbeben begleitet, die bis in 30 Kilometer Tiefe reichten. Die messbare Verschiebung an der Erdoberfläche betrug jedoch lediglich 30 Zentimeter – ein geringer Wert, wenn man bedenkt, dass sich entlang des Kumburgaz-Abschnitts des Nordanatolischen Grabens bereits eine Spannung von bis zu 3,7 Metern aufgebaut hat.

„Der Großteil des Bruchs steht noch aus“

Prof. Dr. Cenk Yaltırak, der Leiter des MATAM, betont, dass lediglich ein 20 Kilometer langer Teil des insgesamt 80 Kilometer umfassenden Kumburgaz-Abschnitts betroffen war. „Der größte Teil der Verwerfung ist noch intakt. Dieses Beben war kein Vorzeichen für das große Beben – aber es hat die Spannung auch nicht gelöst“, so Yaltırak.

Höchste Bodenbeschleunigung in Küçükçekmece gemessen

Das Beben war besonders stark im Istanbuler Stadtteil Küçükçekmece spürbar, wo eine maximale Bodenbeschleunigung von 0,2 g gemessen wurde. Auch in den Bezirken Eyüp, Marmara Ereğlisi und Avcılar waren die Erschütterungen deutlich zu spüren. Fachleute betonen, dass solche Unterschiede nicht nur auf die Entfernung zum Epizentrum, sondern auch auf die geologischen Bodenverhältnisse zurückzuführen sind. Der Bericht kritisiert, dass aktuelle Reduktionsmodelle zur Bewertung seismischer Gefährdung nicht mehr ausreichen und durch neue, präzisere Systeme ersetzt werden müssen.

Warnung vor Kettenreaktion – Vorbereitung auf das „Worst-Case“-Szenario

Yaltırak verweist auf die Erfahrungen mit den schweren Beben von İzmit (1999) und Kahramanmaraş (2023), bei denen es zu sogenannten „zunehmenden Kettenbrüchen“ kam. Diese Dynamik erhöhe die potenzielle Magnitude eines Bebens erheblich. So könne ein einzelner Segmentbruch ein Beben der Stärke 7,1 verursachen, während bei vier gleichzeitig reißenden Segmenten mit einem szenariobasierten Höchstwert von 7,8 zu rechnen sei. Laut Yaltırak basiert dieser Wert auf rein wissenschaftlichen Berechnungen.

„Bauen wir für 7,1 – riskieren wir Leben bei 7,8“

Der Professor fordert einen realistischen Umgang mit dem Erdbebenrisiko: „Wenn wir Gebäude nur für ein Beben der Stärke 7,1 auslegen, könnten sie bei 7,8 zerstört werden. Umgekehrt passiert bei einem kleineren Beben nichts, wenn für das größere gebaut wurde. So einfach ist das. Unsere Vorbereitung muss dem realen Risiko entsprechen.“

Experten fordern sofortige Aktualisierung von Katastrophenszenarien

In dem Bericht wird zudem deutlich, dass der Gebäudebestand in Istanbul und Umgebung dringend an ein mögliches Großbeben angepasst werden muss. Dazu sind aktualisierte Gefährdungsszenarien, präzisere Bodenanalysen und realistische Berechnungen der zu erwartenden Beschleunigungen bei einem Beben erforderlich. Nur durch eine frühzeitige und konsequente Vorbereitung lasse sich das Risiko künftiger Katastrophen verringern.